Zum Tod von Christof Stählin
Am 9. September ist mein Lehrer, der Liedermacher und Kabarettist Christof Stählin nach schwerer Krankheit verstorben.
Das vergangene Jahr über haben sich seine Schüler in einer Art und Weise um ihn und umeinander gekümmert, die mich tief berührt hat. Einer, der viele Menschen beschenkt hat, wird zum Ende seines Lebens von all seinen Schülern gehalten und begleitet – was für ein wunderschönes Gegengift, für Alles.
Christof wird schmerzlich fehlen, und Generationen von Songschreibern werden nicht die Chance bekommen, von seinen geschliffenen, starrsinnigen, genialistischen „Unterweisungen“ zu profitieren – viele werden sich nicht vorstellen können, dass es da mal eine Schule gab, nur für Songtexter, geführt auf die vielleicht einzige Art und Weise, die ich mir vorstellen kann: exzentrisch, rückhaltlos feingeistig und in völliger Verneinung von Massengeschmack und Vermarktbarkeit.
In den Jahren vor der ersten Wir sind Helden -Platte war ich vier Sommer lang Schülerin in Christofs sagenumwobener Liedtexterschule Sago – jener verschrobenen, altmodisch elitären, rundum wunderbaren Einrichtung, aus der (unter vielen Anderen) auch meine Kollegen Dota Kehr, Alin Coen, Sebastian Krämer, Andreas Thiel, Uta Köbernick und Bodo Wartke hervorgegangen sind.
Ich irrte damals in Ermangelung einer Band eher kopflos durch die Berliner Kleinkunstszene – die ich zwar wunderbar und inspirierend fand, zu der ich mich aber nie zugehörig fühlte. Ich war immer Touristin auf den offenen Bühnen der Stadt – aus dem schlichten Grund, dass man zu meiner Musik perspektivisch von der Bühne aus in eine tobende Menge springen sollte.
Aber meine scharfzüngigen, florettschwingenden Kabarettistenfreunde trugen mich mit Fassung und schüttelten nur sanft den Kopf, wenn ich den Verstärker wieder so laut machen wollte, dass man den Gesang nicht mehr verstand.
Ich weiß nicht mehr, wer es war, der mich „vorschlug“ bei Sago – Sebastian Krämer vielleicht? Vorgeschlagen werden muss man nämlich, um mitmachen zu können – ein Umstand, der maßgeblich zum Spaß und zum angenehm okkulten Charakter der Veranstaltung beitrug.
Und so saß ich 1999 (oder 2000?) dann das erste Mal in Christofs illustrer Runde – leicht verschüchtert, gerade mal in der Lage mich selbst zu begleiten, mit einer Handvoll erster, ungekämmter Songs im Gepäck. Als neuester Gast in einem überraschend schulischen Stuhlkreis, besetzt mit der heterogensten, Hogwarts- würdigen Dandytruppe, die ein Künstlerherz sich wünschen kann. Eine Gruppe, die im besten Sinne aus der Zeit gefallen schien, in ihrem ritterlichen, edlen Anspruch, nur geschliffene Kleinode in die Welt zu setzen – und niemals scheiße oder ficken zu sagen, in einem Song, was mir deutlich schwer fiel.
Und in dieser Runde ließ ich mich und meine kaum flüggenen Lieder gleich am ersten Tag gründlich auseinander nehmen. So nämlich läuft das bei Sago, unter anderem: einer spielt sein Lied vor, die anderen sagen reihum, was damit –noch nicht – stimmt. Und: ja, das ist manchmal brutal, aber Herrgottsack, es funktioniert. Nichts schleift das Schwert, das leichte, so sehr, wie der freundliche aber unzimperliche Blick geschulter Kollegen.
Und mitten drin: der sanftsprechende, messerscharfe, gütige und kompromisslose, der rundum feine Herr Stählin. Und der erklärte mir, nachdem alle gesprochen hatten, in wenigen pointierten Sätzen, dass ich noch garnicht das Lied geschrieben hatte, das ich glaubte, geschrieben zu haben. Und warum.
Ich bin seither oft gefragt worden, ob ich denke, dass man Songwriting unterrichten, bzw lernen kann. Und ich denke: ob man Inspiration lehren kann, und Ehrlichkeit und Dranbleiben – und Voodoo, Magie und die vielen anderen Fähigeiten, die einen Songwriter ausmachen? Ich weiß nicht so recht. Schön wär´s. Vielleicht, ein bisschen.
Aber man kann Leuten definitiv helfen, das Lied zu schreiben, das sie schreiben wollen. Man kann Geburtshelfer sein und man kann Leute dazu bringen, sich klar zu werden, was sie zu sagen haben – und sie im besten Fall daran hindern, auszubüchsen und stattdessen wohlklingendes Geseier zu fabrizieren. Man kann ihnen beibringen, keine Phrasen zu dreschen und sich nicht zu verstecken.
Ich habe so viel von Christof gelernt, und seine Unterweisungen schwingen heute noch mit, wenn ich schreibe:
Kann ich das EINE Bild finden, das noch nicht abgegriffen ist? Kann ich über das ganz, ganz Persönliche, Spezifische an universelle Gefühle herankommen? Versteht man das, was ich da schreibe? Soll man? Wenn nein, warum nicht? Berühre ich das, was Christof den „inneren Kreis“ nannte, das peinlich Persönliche, das, wo man heute „too much information“ quieken würde? Oder bin ich „Caspar Hauser“ in seinem Turm, der nur noch die Innenansicht kennt, von seinem Song, und das Außen, die Anderen, völlig vergessen hat? Und, vielleicht die wichtigste Frage: hat das, was ich da schreibe, wirkliche innere Dringlichkeit – oder trete ich nur auf sehr elegante Weise Wasser?
Ich bin bei Sago vielleicht immer mal wieder auf- und wohl auch rausgefallen. Aber ich habe mich selten so zuhause gefühlt, wie in dieser Bande aus der Zeit gefallener Freaks und Spezialisten – und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Sago weiter besteht, und dass Christofs Geist noch viele Künstler berühren kann.
Vielen Dank an Alle, die vor Ort waren und uns Andere so liebevoll haben Anteil nehmen lassen.
Alles Liebe,
Judith