Sleepless in Tórshavn, Teil 5
Metal, ADHS und die Kunst des Blumensteckens
Am Abend des fünften Tages ist es so weit: die Außenwelt beschließt, dass unsere Schonfrist zuende sei – und bricht in Form einer gut gelaunten Wikingerhorde zu uns herein. Teitur hatte mich gewarnt, dass die Färinger sich nicht verabreden – sie klopfen einfach. Gerne auch mal mit zwei Kindern im Schlepptau, die sie ohne Vorwarnung für Stunden bei Freunden absetzen.
Diese Wikinger hier haben keine Kinder dabei, sie tragen große Mengen durchsichtiger Getränke unter den tättowierten Armen und scheinen sich auf einen langen Abend einzurichten. Seufzend fügen Teitur und ich uns unserem Schicksal. Und so ergießt sich ein fröhlicher Trupp mitteljunger Menschen in Teiturs Küche, und jeder Einzelne scheint sämtliche Klischees von skandinavischer Landjugend freudig zu umarmen. Gepflegte System of a Down –Bärte und Metalshirts an den Männern, Nasenringe, schwarzroter Lippenstift und sehr lange, sehr glatte Haare an den Frauen. Geschlechtsunabhängig: flächendeckende Tinte –Arbeiten auf mindestens beiden Armen. Am späteren Abend zeigt mir Thórun ihre tättowierte Achselhöhle.
Ein vergleichsweise zartes Wikingerlein packt herzhaft meine Hand und scheint sie nicht wieder loslassen zu wollen – dazu schaut er mir ungewöhnlich hartnäckig in die Augen und begrüßt mich euphorisch und eloquent: „How do you like it here on the Faroe Islands? I hope the island has been treating you well.“ Ich entspanne mich sofort und lasse mich zufrieden in einen der Küchenstühle sinken. Die Metalheads, die ich in meinem Leben bisher kennengelernt habe, waren die liebenswürdigsten, grundanständigsten und im besten Sinne harmlosesten Gesellen, die man sich vorstellen kann. Ironischerweise scheinen Metaller die letzten wirklichen Hippies unserer Zeit zu sein. Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich, sich die Wacken –Doku zu Gemüte zu führen, oder, noch besser „The Story of Anvil“.
Und siehe: der zarte Wikinger (Bórdur!) verwickelt mich in ein enthusiastisches Gespräch über Hochsensibilität, die erstaunliche Wirksamkeit von großflächiger Berührung bei der Behandlung von sogenannten ADHS –Kindern – und die Kunst des Blumenbindens. Letzteres übrigens sein Beruf. Wärenddessen reibt er mit dem tättowierten Ärmchen in regelmäßigen Abständen über meinen vom langen Sitzen geschundenen Rücken. Wahrscheinlich hält er mich für ein ADHS Kind, ein Eindruck, der nach den fünf Tagen manischer Kunstarbeit nicht ganz so weit hergeholt sein mag. Ich bin entzückt und erwiedere furchtlos den intensiven Blick meines neuen Freundes. Bórdur hat ganz eindeutig einen an der Schacke, in der bestmöglichen Variante – just my kind of guy.
Derweil unterhält sich der Rest der Gruppe angeregt auf Färöisch, einer Sprache, die – Verzeihung – für meine Ohren ziemlich genau so klingt, wie die ausgedachte Sprache in der Kinderserie Pingu. Inmitten des Stimmengewirrs stehen immer wieder einzelne Mitglieder der Gruppe auf und legen im Nebenzimmer neue Musik auf – elegische, lyrische, wunderschöne Musik, die nur hier auf dieser Insel entstanden sein kann. Ist sie auch. Wie Teitur mir zuraunt, handelt es sich bei der Musik ausschließlich um Werke der respektiven Bands der jeweils aufgestandenen Gäste. Wie könnte es auch anders sein – jeder dieser wilden Kerle und Kerlinnen hier hat ein eigenes Bandprojekt, und allesamt bewegen sie sich zwischen Experimentalmusik, Sigur Ros und, na ja, Teitur. Selbstverständlich spielt jeder von ihnen nebenher in einer Grindcore Metalband.
Noch während ich versuche, gleichzeitig die schöne Musik zu würden und mir von Bórdur die Feinheiten des schlichten Lilienarragements erklären zu lassen, merke ich, dass die Fröhlichkeit in einere neue Phase eintritt. Teitur hat eine Gitarre auf dem Schoß und ohne Vorwarnung wirft sich die Gruppe in ein gemütsvolles, komplex mehrstimmiges Lied, von dem ich nur erraten kann, dass es sich um die Freuden des Fischfangs, der Jagd oder der Maidenbezirzung drehen muss. Teiturs Freund Ben mit dem stolzen Bart singt leise in einem wunderschönen, sonoren Bariton, der mir die Tränen in die Augen treibt –Teitur und Bórdur ordnen sich in eleganten Harmonien zurückhaltend drumherum. Ich bin so bewegt, dass ich übersprungshalber den Hund auf meinem Schoss küsse. Die Frauen auf der gegenüberliegendes Seite des Tisches verdrehen dezent die Augen, sie scheinen das Impromptu – Gesinge mehr als gewohnt zu sein und sind in etwa so gerührt, wie ich es wäre, würde ich Zeuge einer lallend vorgebrachten Sauf -Anekdote auf einer Freiburger Wohnungsparty.
Mein Freund Bórdur verabschiedet sich zwischendruch wortlos, durch´s Fenster sehen wir ihn in der strahlend hellen Nacht herum streifen, den Blick am Boden, ab und zu bückt er sich, er scheint nach irgendwas zu suchen. Vielleicht muss er sich aber auch übergeben. Als wir ihn beinahe vergessen haben, kehrt Bórdur mit freudigem Triumph im Blick zurück und stellt einen kunstvoll zusammengestellten, riesenhaften Strauß Wildblumen auf den Tisch. Dann lässt er sich in den Stuhl fallen und fällt wieder in die Normannengesänge mit ein.
Der Abend schreitet fort. Es wird Alkohol konsumiert, und das in nicht zu knappen Mengen. Mir schwimmt der Blick auch ohne Schnaps, die Arbeitswut der letzten Tage verträgt sich schlecht mit dem schläfrigen Hund auf dem Schoss und den schaukeligen Gesängen.
Als mich das Taxi vor meiner Wohnung in Tórshavn absetzt, ist es zwei Uhr morgens. Nokturne Partyleichen taumeln durch die taghellen, schmalen Gassen und ich habe kurz ungute Assoziationen zu The Walking Dead. Hundsmüde, selig und passivbetrunken stürze ich in mein Bett und schlafe. Irgendwie.